Mythos oder machbar? Vereinbarkeit unter der Lupe

Je mehr Zeit wir für unseren Ehepartner und für unsere Kinder haben, desto grösser ist die Chance, dass tiefe Gespräche und Herzensbegegnungen stattfinden. Paarforscher weisen darauf hin, dass permanenter Stress ein hohes Beziehungsrisiko darstellt.

Von Regula Lehmann

Die sogenannte „Vereinbarkeit“ gehört zu den populärsten Begriffen der Familienpolitik. Eltern sollen ihr Potenzial in die Arbeitswelt einbringen und zu Hause trotzdem präsent und aufmerksam auf ihre Kinder eingehen. Elternschaftsurlaub, Teilzeitarbeit und Fremdbetreuung sollen das Pendeln zwischen Familie und Beruf zur idealen Lösung machen. Mutter- und Vaterschaft soll als Potential entdeckt und von der Wirtschaft geschätzt werden.

Dass Mütter und Väter wichtige Kompetenzen ins Berufsleben einbringen, ist Tatsache. Es gibt wohl kaum eine effektivere Weiterbildung als das Familienmanagement. Flexibilität, Empathie, Stressmanagement und Führungsqualität sind nur einige der Fähigkeiten, die Eltern täglich trainieren. Ob es jedoch tatsächlich möglich ist, Familie und Berufstätigkeit unter einen Hut zu bringen, ohne dass es dabei Verlierer gibt? Eine Frage, die nicht kategorisch beantwortet werden kann, für deren Beantwortung jedoch einige Punkte zumindest bedenkenswert sind.

Kindeswohl

Wichtigster Fixpunkt in der Debatte um die Vereinbarkeit ist das Wohl der betroffenen Kinder. Nicht was Wirtschaft, Politik oder die Erwachsenen wollen, sollte im Zentrum der Fragestellung stehen, sondern die Frage, was Kinder guttut und sie zu starken und gesunden Menschen heranwachsen lässt. Kinder brauchen, um sich sicher zu fühlen, konstante und verlässliche Bezugspersonen. Die Favoriten sind dabei für das Kind in aller Regel die Eltern. Ganz oben auf der Wunschliste steht „Zeit mit Mami und Papi“. Was Kinder sich wünschen sind wir!

Bleibt aufgrund von Berufstätigkeit zu wenig Raum für das Pflegen der Eltern-Kind-Beziehung, bleiben tiefe kindliche Bedürfnisse ungestillt. Der bekannte Schweizer Kinderarzt Remo Largo erklärt zur Frage, ob lange Präsenz sich nicht durch „quality time“ ersetzen lasse: „Das ist Augenwischerei, eine Ausrede für Eltern, die keine Zeit haben. Zeit ist etwas vom Wichtigsten, das Eltern Kindern geben können. Ein Kind kann nicht allein sein. Punkt. Es muss jederzeit Zugang zu einer vertrauten Person haben. Der Zeitfaktor hat auch einen direkten Einfluss auf den Erziehungserfolg.“ Weil Kinder sehr solidarisch sind und in der Regel alles tun, um es uns Eltern recht zu machen, kann ihr Leiden lange unbemerkt bleiben und zeigt sich möglicherweise erst in auffälligem Verhalten im Schulzimmer oder im Teenageralter. Um zu wissen, wie es um das Kindeswohl steht, müssen Eltern bereit sein, ihr Kind unvoreingenommen wahrzunehmen und Veränderungen einzuleiten, wo immer dies notwendig und möglich ist.

Weinen Kinder, wenn sie „abgegeben“ werden, kommen sie übermüdet in den Kindergarten oder in die Schule, weil sie frühmorgens aus dem Schlaf gerissen und in den Hort gebracht wurden oder zeigen sie Stresssymptome, liegt der Schluss nahe, dass ihre Bedürfnisse (noch) nicht mit einer Berufstätigkeit beider Eltern vereinbar sind.

Mit der Natur leben

Bei der Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sollten natürliche Gegebenheiten beachtet werden. „Mit der Natur“ zu leben, statt gegen Naturgegebenes zu kämpfen, bedeutet weniger Stress, bessere Entwicklungsbedingungen und damit mehr Glück für alle. Schwangerschaft, Geburt und Stillen sind nun mal „Frauensache“ und viele Babys und Kleinkinder zeigen deswegen auch eine starke Fixierung auf Mama. Es bietet sich schlichtweg an, dass Frauen sich in den ersten Lebensjahren in die Kinderbetreuung investieren. Spätestens ab Kindergarten- und Schulalter verändert sich die Betreuungs-Situation grundlegend. Weil Väter andere Kompetenzen ins Familienleben einbringen, kann ein Rollentausch oder das Jobsharing der Eltern für Kinder und Teenager bereichernd und entwicklungsfördernd sein. Und natürlich bedeutet „Naturnähe“ auch, die eigenen körperlichen und psychischen Grenzen anzuerkennen. Nicht jede Mutter und nicht jeder Vater ist ein Multitasker, der gerne mit verschiedenen Rollen jongliert. Müssen sie auch nicht. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf soll weder bestritten, noch idealisiert und schon gar nicht aufgezwungen werden.

Stress ist ein Beziehungskiller

Je mehr Zeit wir für unseren Ehepartner und für unsere Kinder haben, desto grösser ist die Chance, dass tiefe Gespräche und Herzensbegegnungen stattfinden. Paarforscher weisen darauf hin, dass permanenter Stress ein hohes Beziehungsrisiko darstellt. Leiden Geduld, Liebe und Kommunikation unter zu hoher beruflicher Anspannung, muss die Vereinbarkeit ernsthaft in Frage gestellt werden. Verbringen Kinder zu viel Zeit in Kita, Tagesfamilie oder Hort, erhöht sich zudem die Gefahr des „inneren Beziehungsabbruches“. Betroffene Kinder bitten nicht mehr ihre Eltern um Rat oder Hilfe, sondern orientieren sich an den Gleichaltrigen, der Peergroup. Was einerseits ein Verlust ist, weil diese auf dem gleichen, noch unreifen Entwicklungsstand sind. Und andererseits, weil Eltern und andere Erwachsene dadurch immer weniger heilsamen Einfluss auf das Kind oder den Teenager nehmen können. Mit teilweise fatalen Folgen, wie die Erfahrungen von Schulsozialarbeitern und Familienberatung zeigen. Eine weitere, spannende Frage ist, wie Kinder, die sich als „abgeschoben“ erleben, in ferner Zukunft mit ihren Eltern umgehen werden. Werden sie diese, mit der Begründung, dass die eigene Karriere vorgeht, ohne Skrupel im Alters- oder Pflegeheim „versorgen“?

Mythos oder Idealzustand?

Dass es nicht in jedem Fall möglich ist, Kinder – so lange sie dies bräuchten – selber zu betreuen, ist leider Tatsache. Manche Eltern müssen schlichtweg arbeiten gehen, um das Lebensnotwendige zu erwirtschaften. Wo immer es jedoch andere Lösungen gibt, muss die Frage erlaubt sein, ob weniger Luxus nicht mehr Lebensqualität bedeuten würde. Und ab welchem Zeitpunkt die vielgepriesene Vereinbarkeit tatsächlich gelebt werden kann. Das langfristige Familienglück der Selbstverwirklichung, einem hohen Lebensstandard oder gesellschaftlichen Vorgaben zu opfern, ist die Sache schlicht und einfach nicht wert.